Die Grashalm-Meditation
Kennen Sie das: Ihr Hund und Sie sind draußen unterwegs. Aber phasenweise haben Sie das Gefühl, dass Sie eher spazierenSTEHEN als spazierenGEHEN? Jeder zweite Laternenpfahl, jeder dritte Baum zieht den Hund in seinen Bann? „Er meditiert an einem Grashalm“ hat es ein Hundebesitzer neulich mal (irgendwo zwischen liebevoll und leicht angestrengt) bezeichnet. Was uns Menschen oft wenig nachvollziehbar und manchmal sogar lästig erscheint, bedeutet aus Hundesicht echte Lebensqualität. Warum das sprichwörtliche Zeitunglesen so wertvoll ist und wie auch wir Zweibeiner davon profitieren können, darum geht es hier.
Warum Zeitunglesen so wichtig ist
Es ist kein Geheimnis: Hunde sind uns mit ihrem Geruchssinn haushoch überlegen. Die Welt erschließt sich ihnen zu einem großen Teil über ihre Gerüche. Wer das einmal nachvollziehen möchte: Im knapp vierminüten Erklär-Video der US-amerikanischen Hunde-Expertin und Wissenschaftlerin Alexandra Horowitz wird es ebenso fundiert wie unterhaltsam beschrieben (Tipp: deutsche Untertitel lassen sich über die Einstellungen / das Zahnradsymbol beim Youtube-Video einstellen, darauf „Untertitel“ anclicken und anschließend die Sprache auswählen!).
Entsprechend sind Grashalme, Laternenpfähle oder Bäume wichtige Nachrichtenkanäle für unsere Hunde. Wer war wann da? Was hat er oder sie gegessen? Wie ist das Befinden? All das und noch viel mehr steht dort „geschrieben“ – für uns Menschen quasi in Geheimtinte. Die Fülle von Informationen und Neuigkeiten studieren zu dürfen, gehört für unsere Hunde zu einem erfüllten Alltag. Genau so, wie für uns das Lesen der Tageszeitung, das Anschauen der Nachrichten oder die tägliche Dosis Facebook oder Instagram.
Und noch mehr:
- Zeitunglesen entschleunigt: Wer schnüffelt, zieht nicht gleichzeitig an der Leine. Gerade Hunde, die viel vorausstürmen und wenig schnüffeln, profitieren von einem „Schnüffelförderprogramm“. Dafür bleiben Sie jeweils mit stehen, wenn Ihr Hund schnüffelt, und loben ihn mit leiser ruhiger Stimme dafür.
- Zeitunglesen macht umweltsicher: Wer sich mit seiner Umwelt auseinandersetzt, kommt auch besser mit ihr klar! Gerade für unsichere Hunde ist es elementar, viel Zeit zum Schnüffeln und Schauen zu bekommen.
- Zeitunglesen ist Mittel friedlicher Kommunikation: Wer sich geruchlich bereits mit den nahen Artgenossen auseinandersetzen (und ggf. auch die eigenen Duftmarken hinterlassen) kann, reagiert weniger aufgeregt, wenn sie tatsächlich in Sicht sind.
- Zeitunglesen macht müde: Die Zeit, die der Vierbeiner zeitungslesend verbringt, gilt als vollwertige Beschäftigungszeit! Schließlich wollen alle aufgenommenen Informationen und Sinneseindrücke auch im Hundekopf verarbeitet werden.
… und was tun wir dabei?
Wer weitergeht, wenn der Hund schnüffelt (ob im Freilauf oder an der Leine), treibt ihn körpersprachlich unbewusst zur Eile an. Viele Hunde-Experten raten deshalb: „Überholverbot“, wenn der Vierbeiner schnüffelt! Zugegeben: Für uns Menschen, die wir gerne in konstantem Tempo und sehr gradlinig unterwegs sind, ist das gar nicht so leicht. Aber: Denken Sie doch einmal neu. Entdecken Sie selbst die Langsamkeit. Nutzen Sie das Stillstehen, um tief durchzuatmen, die Seele baumeln zu lassen und vielleicht sogar die eigenen Sinne zu schärfen. Begeben Sie sich ebenfalls auf Grashalm-Meditation!
Ein paar Anregungen:
- Fühlen Sie den Sonnenschein oder den Wind auf Ihrer Haut? Aus welcher Richtung kommt der Wind? Wo steht die Sonne? Wissen Sie überhaupt gerade die Himmelsrichtungen einzuordnen?
- Welche Geräusche hören Sie? Blätterrauschen, Stimmen, Verkehrsgeräusche, Vögel? Können Sie herausfinden, wie viele Vögel in der Umgebung singen und (wenn Sie sich ein wenig auskennen) welche?
- Wonach riecht es? Nach dem Regen nach feuchter Erde, bei Trockenheit ein wenig staubig, oder gerade – nicht so schön – ein wenig nach „Schornstein“…?
- Lassen Sie Ihren Blick in die Ferne schweifen: Wie weit kommen Sie? Was sehen Sie am Horizont?
- Nehmen Sie Ihre nähere Umgebung bewusst wahr: Betrachten Sie die Häuser, die Bäume und anderen Pflanzen ringsum.
- Werfen Sie einen Blick direkt vor Ihre Füße: Gibt es dort blühende Blumen oder Gräser mit interessanten Halmen? Welche Insekten krabbeln und fliegen dort?
- Und überhaupt: Können Sie an Ihrem Hund erkennen, wen oder was er erschnüffelt? Sagt Ihnen seine Körpersprache, ob er das Erschnüffelte hoch spannend findet oder eher die „ganz normalen“ Neuigkeiten des Tages checkt?
Smartphone? Eher nicht, aber ...
Selbst am Smartphone die Nachrichten zu lesen, zu chatten oder Mails zu checken: Die Versuchung ist groß, es dem Vierbeiner gleich zu tun, wenn er schnüffelt. Allerdings blenden wir Menschen uns dadurch oft komplett aus der Umwelt aus. Eigentlich viel zu schade. Es gibt jedoch zwei gute Gründe, gelegentlich das Smartphone in die Hand zu nehmen. Die kostenlosen Apps BirdNET (ein Projekt der Technischen Universität Chemnitz) und Flora Incognita (ein Projekt der Technischen Universität Ilmenau) helfen Ihnen dabei, das Mikrokosmos um Sie herum zu entdecken! Mit ihnen lassen sich Vogelstimmen und Pflanzenarten auf einfache Weise und meist sehr treffsicher bestimmen!
Merken Sie es? Es gibt eigentlich so viel zu entdecken in der Langsamkeit – auch für uns Zweibeiner!
Und wenn's mal schnell gehen soll?
Natürlich gibt es die Situationen, in denen es auch mal schnell gehen muss und in denen nicht unendlich geschnüffelt werden kann. Bringen Sie Ihrem Hund dafür doch ein „Weiter-“ oder Folge-Signal bei! So können Sie ihn erforderlichenfalls ansprechen und „mitnehmen“. Das ist für ihn viel angenehmer, als wenn er einfach so an der Leine weggezogen wird. Außerdem können Sie mit Ihrem Weitergehen (angeleint: bis ans Ende der Leine, ohne diese auf Spannung zu setzen, oder aber im Freilauf) signalisieren: „Wir haben es gerade eilig“.